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Zukunft der Innenstadt – Retail Report 2017

Ein Einkaufsbummel durch so manche deutsche Klein- oder Mittelstadt sorgt immer häufiger für Enttäuschung und Frustration: eine geringe Auswahl an Produkten, zahlreiche geschlossene, inzwischen leerstehende Geschäfte oder Läden für Billigprodukte. Das Zukunftsinstitut behandelt dieses Thema im Retail Report 2017.

Karlsruhe präsentiert sich auch im Internet als attraktive Einkaufsstadt

Jedes zehnte Ladengeschäft in Deutschland sei von der Schließung bedroht, so die Studie „Stadt, Land, Handel 2020“ vom Institut für Handelsforschung. Als Gründe werden der boomende E-Commerce und fehlender Veränderungswille von traditionellen Handelsunternehmen genannt. Dies, gepaart mit Leerstand von Gewerbeflächen und kommunaler Überforderung, sorgt für Tristesse statt bunten Treibens in der Stadt. Während die Retail-Landschaft in den Metropolen Berlin, München, Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf, Köln oder Stuttgart floriert und experimentierfreudig ist, bieten Einkaufsstraßen anderer Kommunen lediglich ein ähnliches Bild von international agierenden Handelsketten, gemischt mit Gastronomieangeboten, und wenig Abwechslung. Die Trends werden in den glamourösen Großstädten von der urbanen kreativen Klasse gemacht. Dass man eine Innenstadt betreten kann, ohne zu wissen, in welcher Stadt man sich gerade befindet, wird bereits seit dem Aufkommen des filialisierten Einzelhandels beklagt. Zahlreiche Kommunen unter 100.000 Einwohnern haben gar ums nackte Überleben der Einzelhandelslandschaft zu kämpfen – und sind froh, überhaupt Mieter für leerstehende Gewerbeflächen gewinnen zu können. Kaum verwunderlich also, wenn die Konsumenten abwandern – in die Metropolen, aber vor allem ins Netz.

Das Problem ist erkannt, doch in den meisten Fällen sorgt es für Ratlosigkeit und Resignation- innovative Strategien, konkrete Handlungsanweisungen und Erfolgsprojekte sind rar. Die Händler in Klein- und Mittelstädten stehen vor großen Herausforderungen, denen sie mit vereinten Kräften sowie mit vernetzten Konzepten und Lösungen begegnen können. Schließlich ist in dieser Gegend genügend Raum für Innovationsgeist – der Raum muss allerdings genutzt werden.

Verödung der Innenstädte

Allem voran gilt der wachsende E-Commerce als ausschlaggebender Grund für das Sterben des städtischen Einzelhandels. „Der Online-Handel droht zum Ladenkiller zu werden“, so beispielsweise der Handelsexperte und Leiter des eWeb-Research-Centers, Gerrit Heinemann, und werde „dem klassischen Einzelhandel in den nächsten Jahren immer mehr und immer schneller Umsätze wegnehmen“. Die Konsequenz: Viele schwache Händler werden ihre Läden schließen müssen, so das Fazit. Der E-Commerce-Experte und Blogger Jochen Krisch ist sogar davon überzeugt, dass der stationäre Handel in Deutschland keine Zukunft habe, weil die Onliner zu stark seien. „Er hat einerseits das Problem Amazon, und er hat ein zweites strukturelles Problem: Die Innenstädte funktionieren nicht mehr.“ Zu spät stelle sich der stationäre Handel die Frage, wie er das Internet für sich nutzen könne.
Nach einer Schätzung des Instituts für Handelsforschung (IFH) droht rund 45.000 Sportartikelhändlern, Spielwarenläden, Boutiquen und Elektronikgeschäften in Deutschland bis 2020 das Aus. Während große Handelsunternehmen immer mehr auf Multi-Channel-Services und -Erlebnisse setzen, ist es besonders der inhabergeführte Handel, der bei den neuen technischen Entwicklungen kaum mithalten kann. Wer sich Online-Kompetenz einkaufen kann, ist klar im Vorteil – alle anderen bleiben auf der Strecke. Da der inhabergeführte Fachhandel nur selten die Kapazitäten und das Know-how hat, eine Multi-Channel-Strategie zu entwickeln, führt dies vor allem in Klein- und Mittelstädten zur Erosion der Geschäftslagen, da dort die Handelslandschaft vor allem aus Fachhändlern besteht.

Strukturwandel im Handel

Seit jeher war der Handel an den Raum geknüpft, der E-Commerce löst diese Verbindung nun auf und sorgt somit für grundlegende Veränderungen. Der Handel wird zunehmend befreit von Raum und Zeit. Doch auch die zunehmende Dezentralisierung der Städte führt zu einem Frequenzverlust in den urbanen Zentren. Der Wettbewerb zwischen innerstädtischen und suburbanen Handelsformaten steigt in vielen Regionen zunehmend, da Fachmarktzentren oder Shopping-Malls außerhalb der Stadt revitalisiert oder erweitert werden. Beispiele hierfür sind der Citti Park Lübeck oder der Thüringen Park Erfurt, der nach eigenen Angaben eine „Shopping-Vielfalt mit Anspruch“ zu bieten hat. Damit decken diese Retail-Zentren mit Discount-Supermärkten und Fachmärkten auf der grünen Wiese mittlerweile mehr als nur den Alltagseinkauf ab – ganz zum Leidwesen der Innenstadt, was laut dem Kölner Institut für Handelsforschung bereits jeder dritte Kunde mit weniger Einkäufen in der Innenstadt deutlich macht. Kurzum: Was in Innenstädten heute an Convenience und an Erlebnis fehlt, wird in vielen Ortschaften von Wettbewerbern am Stadtrand oder im Internet nachgeholt. Eine Branche, die laut einer Umfrage des Bundesverbands der deutschen Textilwirtschaft, BTE, besonders betroffen ist, ist der Modehandel, der einen Rücklauf der Kundenfrequenz von bis zu 69 Prozent in den innerstädtischen Filialen befürchtet. Das ist keine Überraschung, schließlich wird besonders bei der Mode an vielen anderen Orten – on- und offline – wesentlich mehr Auswahl geboten. Zwar können Kommunen die Neuansiedlung von Fachmarktzentren oder Shopping- Malls durch die Baugesetzgebung steuern und notfalls verhindern, die Revitalisierung ist aber in vollem Gange.

Attraktivität gestalten

Für die Innenstadt der Zukunft stellt die Wiederbelebung des Stadtkerns daher eine große Herausforderung dar. Zwar profitieren die Großstädte und Metropolen vom Megatrend Urbanisierung, doch auch dort zeigen sich Trading-Down-Effekte in den Nebenlagen. Einer Befragung unter Passanten zufolge schneiden Deutschlands Innenstädte in Sachen Attraktivität lediglich mit der Schulnote 3+ ab – größere Städte mit über 200.000 Einwohnern stehen dabei mit einer 2,5 besser da als Städte mit weniger Einwohnern. Die wichtigsten Faktoren für die Gesamtattraktivität sind die Gestaltung der Innenstadt, das Ambiente und das Flair, der Erlebnischarakter sowie die Vielfalt und das Angebot der Geschäfte. Im Durchschnitt gab jeder vierte Befragte an, dass sich sein Einkaufsverhalten in der Innenstadt durch das Angebot, online einkaufen zu können, verändert habe. Jedoch gibt es dabei keine Unterschiede hinsichtlich der Einwohnerzahl einer Stadt. Die Größe einer Stadt ist somit nicht die entscheidende Eigenschaft für ihre Entwicklung – für Kommunen, die heute schon mit Leerständen zu kämpfen haben, wird die Zukunft eine immense Herausforderung, an der einige scheitern werden.

Von vollen Einkaufsstraßen, wie hier in Karlsruhe, träumen viele Städte

Die Zukunft der Städte kann nur mit einer Symbiose aller Akteure gestaltet werden – und der Einzelhandel ist seit jeher ein wichtiger Faktor für die Attraktivität der Städte. Der E-Commerce ist zwar ein Katalysator für die zunehmende Verödung der Innenstädte, aber trotzdem kennzeichnet er nur einen Teil des Problems. Innenstädte sind wichtig für die tägliche Versorgung, doch zugleich sind sie Freizeitorte, die es attraktiv zu erhalten und auszubauen gilt.

Treiber für den Wandel

Die Zukunft der Handelsunternehmen in der Innenstadt ist von unterschiedlichen Rahmenbedingungen abhängig. Die Digitalisierung steht dabei im Mittelpunkt, doch haben auch andere Trends Einfluss und formieren die Innenstädte von morgen und ihre Grenzen neu.
Die Urbanisierung sorgt auch für Veränderungen in den umliegenden Metropolregionen. Mit der steigenden Anzahl an Großstädten entstehen internationale Kreativzentren, die neue Handelskonzepte für die Zukunft fördern und für ganz Deutschland wegweisend sein können. Auf der anderen Seite herrscht in diesen Metropolen ein zunehmender Flächenmangel und ein umtriebiges Zusammenleben, das dazu führt, dass Stadtbewohner in die umliegenden Mittelstädte und stadtnahe ländliche Regionen ziehen. Vor allem junge Familien suchen die Naturnähe, wollen aber den Kontakt zum urbanen Lebensstil nicht verlieren. New-Work-Konzepte wie Home Office und dezentrales Arbeiten nehmen dem Pendeln seinen Schrecken. Die Entwicklung von selbststeuernden Fahrzeugen könnte in wenigen Jahren lange Pendelzeiten zum Teil der Arbeitszeit werden lassen und das Auto zum Büro. Diese Menschen bringen nicht nur die Kaufkraft in die Städte, sondern den Wunsch nach Veränderung und Innovationen. Zugleich können sie ihre moderne Lust am lokalen Rückzug ausleben.
Der demografische Wandel prägt die Zukunft der Städte maßgeblich, vor allem in den Mittelstädten Deutschlands. Seit Jahren zeichnet sich der Trend zur Silver Society in diesen Städten ab. Ganz im Gegensatz zu kleinen Dörfern findet sich hier die notwendige Infrastruktur, die den älteren Konsumenten wichtig ist. Die Silver Generation stellt neue Anforderungen an den Handel von morgen, denn sie ist keineswegs unerfahren in den vernetzten Möglichkeiten des Handels, sondern fordert umso mehr neue, on-/offline-basierte Konzepte und Services – von der Beratung bis zur Lieferung –, um sich den Alltag einfacher zu gestalten. Menschen aller Altersgruppen werden sich in den kommenden zehn Jahren zu „Omni-Konsumenten“ entwickeln (Savills 2015). Convenience ist Trumpf – und bietet dem Fachhandel neue Chancen.
Die Mobilität schafft flexiblere Strukturen, denn mit steigender Mobilität verwischen die Grenzen von Städten und deren Stadtkernen. Besonders in Mittelzentren ist die Infrastruktur ein zentrales Thema. Der Versuch, neue mobile und fluide Lokalzentren zu schaffen, ist eine besondere Herausforderung und ein Wegweiser für die zukünftige Logistik und die Multi- Channel-Präsenz der Einzelhändler. Dort zu sein, wo der Kunde ist, ist nicht nur in der umkämpften Einzelhandelslandschaft der Metropolen von Bedeutung, sondern künftig auch immer mehr in allen Innenstädten. Deshalb werden neue Shop- und Standort-Konzepte entwickelt, die in Zukunft immer relevanter werden.

450 Unternehmen aller Branchen beteiligen sich im fränkischen Bamberg an dem erfolgreichen Projekt „City Schexs“

Strategien für morgen

Die Work-Szenarien dienen zur Entwicklung neuer Strategien für den innerstädtischen Handel. Sie sollen zur Inspiration und zum Blick über den Tellerrand anregen und sind nicht als Entweder-Oder- beziehungsweise Wenn-Dann-Szenarien angelegt. Erfolgreiche Städte der Zukunft vereinen das eine und das andere – und entwickeln neue Ideen darüber hinaus.

Borderless Local

  • Welche Innovatoren bringen mehr Attraktivität in die Stadt?
  • Wie bekomme ich „die Großen“ auf meine Seite?
  • Was ist der Mehrwert der lokalen Nähe (persönliche Beratung, Service, Logistik)?

Online und offline verschmelzen – globale Auswahl und lokale Verankerung sind keine Widersprüche mehr. Internationale Händler und Marken haben die Kraft der Regionalität erkannt – der Trend zu AuthentiCity setzt sich durch. Es entstehen gemeinsame Shopkonzepte zwischen großen Brands und Städten beziehungsweise Regionen. Marken wie Adidas oder Händler wie H&M gestalten ihre Flagship Stores nicht nur in jeder Stadt anders, sondern sie vermitteln Nachbarschafts-Feeling und Lokalkolorit, indem sie mit heimischen Designern und regionalen Materialien arbeiten. Denn Konsumenten wünschen das Beste beider Welten – sowohl Kundennähe und authentische Ansprache als auch eine umfangreiche Auswahl und Jederzeit-Verfügbarkeit. Andere Unternehmen betreiben keinen eigenen Store mehr, sondern setzen auf Logistik-Hubs und Abholstationen in der Stadt, an denen Produkte ausgetestet und anprobiert und bei Nichtgefallen direkt zurückgesendet werden können. Die großen Online-Plattformen Ebay und Amazon waren die Vorreiter, inzwischen nutzen auch internationale Markenhersteller diese Möglichkeit, einen smarten und kostengünstigen Anlaufpunkt für ihre Kunden zu bieten.

Smart Spaces

  • Wie kann ich die lokale Nähe in bindende Serviceleistungen übersetzen?
  • Mit welchen Anbietern vor Ort kann ich kooperieren, um noch mehr Lebensqualität und Neuigkeitswert für meine Kunden zu liefern?
  • Welche Funktion kann ich im Gesamtkonzept erfüllen? Bin ich in Zukunft Anbieter, Zulieferer oder Vermittler?

Städte setzen auf eine hohe Dienstleistungsorientierung. Sie werden zum Knotenpunkt einer smarten Everywhere-Vernetzung. Das Internet der Dinge ist Alltag, nicht nur Menschen, sondern auch Objekte sind vernetzt und in der Lage miteinander zu kommunizieren. Kaum verwunderlich, dass die Parkplatzsuche in der Innenstadt nun ein Relikt der Vergangenheit ist. Stadt-Datenbanken nach dem Amazon- Empfehlungsprinzip „Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, kauften auch …“ sind in der Lage, interessierten Konsumenten Tipps und Empfehlungen für Shops und Gastronomie nach ihren Präferenzen zu übermitteln. Händler nutzen den Datenaustausch für Kooperationen untereinander, aber auch mit anderen Branchen. Mit der stadtübergreifenden digitalen Kundenkarte kann deutschlandweit eingekauft werden, je nach Region werden lokale Vorteile maßgeschneidert auf die Person angeboten. Neue Hub-Infrastrukturen sorgen dafür, dass Produkte von verschiedenen Anbietern aus der Region zum gewünschten Zeitpunkt und an den gewünschten Ort geliefert werden. Shopping wird zu einer Leichtigkeit: Je nach Wunsch wird der Einkauf selbststeuernd durch die Vernetzung der smarten Objekte erledigt oder die Person kann den Einkauf als individuelles Erlebnis zelebrieren. Innovative Konzepte werden in „City Innovation Labs“ erprobt: Aus diesen Experimenten entstehen neue Synergiekonzepte, zum Beispiel Tourismus und Handel, Gesundheit und Mode et cetera.

Heimat-Hubs

  • Was sind die lokalen Geschichten und Stärken?
  • Wie kann ich die lokale Kultur stärker inszenieren (Events, Store-Design, Kooperationen)?
  • Mit welchen lokalen Akteuren muss ich gemeinsam agieren?
  • Wie schaffen wir einen gemeinsamen Austausch?
  • Was können die Kommunen und Institutionen ausrichten, um neue Verbünde zu schaffen?
  • Was kann ich Unterhaltsames und wenig Aufwendiges bieten, um die Kunden vor
    rt in ein gemeinsames Gemeinwohlprojekt einzubinden?

Das Bewusstsein hat sich durchgesetzt, dass nur in Kooperation aller städtischen Akteure eine lebendige, vielfältige und lebenswerte Kommune geschaffen werden kann. Der Handel ist Bestandteil eines neuen Wir-Gefühls in der Stadt: alle Akteure arbeiten gemeinsam Hand in Hand an einer attraktiven Stadt. Die Verwaltung und Institutionen von Kommunen übernehmen eine starke Vermittlerrolle und bringen alle Akteure unter einem Dach zusammen. Dieses We-City-Konzept schafft neue Rahmenbedingungen. Die Stadt und ihre umliegende Region wird stärker als Tourismusattraktion vermarktet. Lokale Künstler, Märkte und Events erleben eine Renaissance. Händler bekommen ein Gesicht und erzählen ihre Geschichten und zeigen ihre Stärken. Bewohner sind stolz auf ihre Stadt und entwickeln sogar ein neues „Heimat-Gefühl“: Die kognitive Dissonanz, die die Stadtbewohner in den Anfängen des E-Commerce noch an den Tag legten, hat sich durch ihre Einbindung in die Stadtgestaltung in Engagement verwandelt.

Impulse von „außen“

Zwischen Konsumansprüchen und tatsächlichem Verhalten der Konsumenten klafft häufig eine Lücke. Dieser kritische Lebensstil zwischen Wunsch und Wirklichkeit bringt lokal verankerte Unternehmen in eine schwierige Lage: Sie genießen zwar einen guten Ruf und Bekanntheit – und doch gehen die Umsätze zurück. Die eigene Region zu unterstützen, gilt seit Jahren als ein wichtiger Wert für die Deutschen: Laut der Allensbacher Markt- und Medienanalyse 2015 bevorzugen mehr als die Hälfte der Deutschen regionale Produkte. Und doch zeigt der Blick darauf, wo eingekauft wird, eine klare Bevorzugung der Supermärkte. Die Diskrepanz ist klar: Zwar wollen die Menschen gerne das Regionale kaufen, nutzen dann aber doch oft aus Bequemlichkeit das Vollsortiment der Supermärkte oder greifen zu den Alternativen der großen Discounter in außenliegenden Retail-Parks, die seit Jahren einen guten Absatz vorweisen. Oder sie fahren zum Shopping in die nächste Großstadt, wo eine Auswahl bekannter Marken lockt.
Ganz entgegen ihren erklärten Wertevorstellungen kaufen die Critical Lifestyles handwerkliche und in der eigenen Stadt hergestellte Produkte eher selten. Was den Konsumenten von heute fehlt, ist das internationale Flair, die Auswahl und die Verfügbarkeit. Denn schon längst entsprechen die Kunden und die Einwohner der mittelgroßen Städte und Gemeinden ab 20.000 Einwohnern nicht mehr dem Klischee der „Leute vom Land“. In Deutschlands Mittelstädten findet sich zunehmend eine fordernde, erwachsene und teilweise elitäre Käuferschaft, die sich bewusst aus den Großstädten entfernt. Allerdings bringen diese hohe Anforderungen an kreative Vielfalt, Infrastruktur und moderne Dienstleistungen und Services mit. Jeder dritte Deutsche kauft heute vermehrt online Produkte ein – vor allem bei global tätigen Filialisten oder Global Playern wie Amazon und Co. – und lässt sich diese nach Hause liefern. Und eine zunehmende Zahl sucht nach internationalen Marken. Der Kunde von morgen wünscht damit letztendlich die Großstadt- Modernität – allerdings gerne im Kleinformat.
Sehr umsatzgetriebene und handelsfokussierte Konzepte, wie der Bremer Weserpark, reagieren darauf bereits mit der Einbindung großer Marken, um für Erlebnis und Neuigkeitswert zu sorgen. Hier wurde zum Beispiel temporär ein eBay Inspiration Store für die Besucher des Shopping-Centers eröffnet. Immobilienbesitzer und -entwickler dürfen sich also nicht scheuen, Innovatoren von außen mit neuen Store-Konzepten zuzulassen, sondern sollten sie ganz im Gegenteil mit ihrem Vorhaben fördern.

 

Synergy Selling

Die Ambivalenz der Critical Lifestyles verlangt von Händlern eine lokale Verankerung und zugleich ein umfassendes Produkt- und Serviceangebot. Konsumenten wollen das Beste beider Welten – was Händler dazu bringt, nach außen über den Tellerrand zu blicken. Die Grenzen zwischen E-Commerce und stationärem Handel sind künstlich, ihre Überwindung sorgt für positive Synergieeffekte. Kaum verwunderlich, dass Internet-Pure-Player diese Chance frühzeitig erkannt haben und auf einen Touchpoint direkt beim Kunden setzen. Laut dem Handelsforschungsinstitut EHI betreibt mittlerweile jeder zweite der 1.000 größten Online-Händler auch stationäre Geschäfte. Bekannteste und erfolgreichste Beispiele sind die Outlet-Stores von Zalando oder die Läden von MyMuesli. Gleichzeitig verbreitete sich die Hiobsbotschaft des übermächtigen Online-Handels, der Handelsflächen in den Großstädten schrumpfen lässt und ihre Funktion auf die eines Showrooms reduziert, in dem Waren präsentiert werden und beraten wird, während der Kauf übers Netz abgewickelt wird.

Quelle: Zukunftsinstitut

Heute wird dieser Wandel in den Metropolen als Belebung der Handelslandschaft verstanden. Große, vernetzte Flagshipstores, die auf weitflächige Erlebnisse setzen, kleine Pop-up-Stores mit smarten und besonders kundenorientierten Angeboten und Services und neue stationäre Ankerpunkte für Multi-Channel-Handelsplattformen machen die Vielfalt und die Möglichkeiten des allumfassenden Handels klar. Von einem stationären Sterben ist hier kaum noch die Rede. Die kreative Klasse und die urbanen Hipster sind offen für neue Retail-Konzepte in ihrer direkten Umgebung und läuten damit eine Renaissance des stationären Handels und der Kiez-Kultur ein. Nun scheinen die Doomsayer weitergezogen in die Klein- und Mittelstädte, wo die zunehmende Online-Orientierung als Vorbote des stationären Schlussverkaufs gesehen und nicht als Chance begriffen wird.
Doch es existieren auch innovative Konzepte: Aktuell entstehen in der Symbiose aus kultureller Nähe und digitaler Kraft beispielsweise lokale Marktplätze, die laut einer aktuellen Umfrage stark im Wachsen sind. Laut des Customer Barometer des Beratungsunternehmens KPMG befürworten rund 85 Prozent der Befragten, die einen lokalen Marktplatz kennen, dieses Angebot und nutzen es auch. 93 Prozent sind der Meinung, auf entsprechenden Internetplattformen schnell und einfach lokale Händler und ihre Geschichten angezeigt zu bekommen. Die Persönlichkeit der Händler, ihre lokale Verankerung und ihre Nähe zum Kunden geben der distanzierten Online-Präsenz neue emotionale Kraft.
Für die Critical Lifestyles wird aber auch hier zusätzliche Inspiration und Auswahl immer wichtiger. Das zeigt sich besonders bei den Vorreitern, wie der noch nicht flächendeckend erfolgreich genutzten OnlineCity Wuppertal, die zwar strukturell die Händler vor Ort digital zusammenbringt, dennoch an Impulsen und Vielfalt von außen wenig hinzufügt. Damit schaffen diese Modelle zwar eine moderne Plattform, allerdings ein kaum verändertes Sortiment. Das Angebot der Stadt bleibt gleich, wenn auch mit einer deutlicheren Serviceorientierung. In Zukunft wird es darum gehen, den Kunden kreative Ideen von Querdenkern und großen Handelsmarken zu geben, um damit letztendlich den Markt der Mittelstadt regelmäßig zu beleben und stark gegenüber äußeren Einflüssen von Großstädten und den immer zugänglichen Shops großer Player zu machen. Viele Anknüpfungspunkte zeigen sich heute schon. Mittlerweile entstehen zunehmend mehr Online-City-Formate.

Symbiose

MÖNCHENGLADBACH BEI EBAY
Das Pilotprojekt, das zunächst bis Mitte 2016 angelegt ist, verbindet den stationären Einzelhandel in Mönchengladbach mit seinen Geschichten und Produkten mit der digitalen Kraft von eBay. Einzelhändler aus Mönchengladbach werden auf der Plattform Mönchengladbach bei eBay vorgestellt und ihre Angebote an die Einwohner und Kunden in Mönchengladbach vermarktet. Die Kunden können ausgiebig von zu Hause aus in den virtuellen Auslagen stöbern, den Warenkorb füllen und dann vor Ort im Geschäft abholen oder direkt nach Hause liefern lassen. Neben den Kunden vor Ort werden potenziell auch 17 Millionen aktive eBay-Kunden in Deutschland erreicht.
www.ebay.de/rpp/mg

Quelle: HDE, Statista, KPMG, bevh, Comfort City Ranking, 2016

Interaktiver Stadtteil

DIGITALES DURLACH
Im April 2016 testeten und demonstrierten der Karlsruher Stadtteil Durlach und die Hochschule der Medien Stuttgart mit Unterstützung von Gelbe Seiten die Möglichkeiten und Anwendungen von Location-based Services. Ziel von Digitales Durlach ist es, lokal ansässigen Unternehmen die Möglichkeit zu bieten, neue Technologien zur Kundenansprache auszuprobieren. Hierfür wurde ein digitales und interaktives Viertel geschaffen: Reale Orte, wie Restaurants, Boutiquen und Bars, konnten an Personen, die sich in der Nähe aufhielten, Push-Nachrichten über die Gelbe-Seiten-App aufs Smartphone senden. Über diesen mobilen Kanal der Kundenansprache können Unternehmen die Aufmerksamkeit auf das eigene Geschäft lenken und im besten Fall die potenziellen Kunden zum Kauf animieren.
www.digitales-durlach.de

Heimat-Hubs

Das Aufgabenfeld von Stadtplanern, Handelsvertretern und City-Marketing-Verantwortlichen ist es, die eigene Stadt lebendig und wirtschaftlich stark zu machen. Nicht zuletzt gehört dazu auch ein detailliertes Wissen über die Einwohner, den Absatzmarkt, das Wettbewerbsumfeld und ein regelmäßiger Austausch untereinander. Deshalb ist es umso wichtiger, bei der Vermarktung des Handels Hand in Hand zusammenzuarbeiten und neue, intelligente Stadt- und Handelswelten zu kreieren. Eine Studie der Technischen Universität Wien hat eine globale Aufstellung der „smarten“ mittelgroßen Städte Europas erstellt und die wirtschaftliche Erfolgsbilanz und Innovationskraft mit der kulturellen und sozialen Intelligenz der Städte verknüpft. In dieser Symbiose aus lokalem Gemeinsinn und digitalem und technologischem Entrepreneurship findet sich ein gemeinschaftlicher Innovations- und Veränderungsdrang in der europäischen „Midsize City“, der nicht nur vernetzte Konzepte, zum Beispiel in der Logistik, hervorbringt, sondern auch aufeinander abgestimmte Services und Handelskonzepte, die sich in das Gemeinwohl der Stadt einbinden und das Kulturgut der Stadt unterstützen.
Schnell agierende und innovative Handelsunternehmen am Stadtrand machen es den inhabergeführten Geschäften nicht unbedingt einfacher, Kunden ins Zentrum zu locken. Nach dem Großstadt-Vorbild entstehen dadurch aber immer mehr breitverteilte Knotenpunkte: Wenn die Stadt als ganzheitlich vernetzter Handels- kosmos verstanden wird, bietet dies auch den Händlern in der Innenstadt neue Chancen. Die Mikro-Zentren der Stadt haben die Möglichkeit, ein symbiotisches Netz mit aufeinander aufbauenden Erlebnis- und Service-Funktionen entstehen zu lassen. Grundvoraussetzung: strukturelle Infrastruktur, Austausch und Kooperationen.

Smarte lokale Vernetzung

GUTSCHEINKARTEN UND CO
Zahlreiche Städte in Deutschland bieten eine Gutscheinkarte, deren Guthaben in verschiedenen teilnehmenden Geschäften der Stadt eingelöst werden kann. So bietet beispielsweise das fränkische Bamberg „City Schexs“, nach eigenen Angaben einer der erfolgreichsten Einkaufsgutscheine Deutschlands, die bei über 450 Unternehmen aller Branchen in der Stadt angenommen werden (city-schexs.mybamberg.de). Ein erster Schritt in Sachen innerstädtischer Vernetzung ist getan, für eine smarte, städteübergreifende Strategie kann man sich Inspiration im Reich der Mitte holen: Das chinesische Ministerium für Wohnungswesen hat in 72 teilnehmenden Städten eine Chipkarte eingeführt, die Anwohnern der jeweiligen Städte Preisermäßigungen für den Nahverkehr bietet und zum Bezahlen bei lokalen Einzelhändlern dient. Bereits 750 Millionen Karten wurden ausgestellt, 150 Millionen davon können auch in anderen Städten benutzt werden. Sie sollen eine größere Vernetzung und eine lokale Stärkung der chinesischen Städte bewirken. Mancherorts können die Nutzer den Chip auch für zusätzliche Dienstleistungen wie das Leihen von Fahrrädern oder in Zukunft zum Beispiel den Friseurbesuch nutzen.
Aber auch allein in der Vermarktung können lokale Akteure neue Lebendigkeit schaffen und die Einzelhändler als wichtigen Player eines gemeinsamen lokalen Lifestyles inszenieren. Mit nachbarschaftlichen Events und der Einbindung der Stadtbewohner, z.B. durch gemeinsame Nachhaltigkeitsinitiativen, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl der Konsumenten zu ihrer Stadt. Diese Identifikation mit einer Stadt oder einem Quartier stärkt zudem die persönliche Nähe zu lokalen Händlern und deren wirtschaftlichen Erfolg.

Lebendige Kleinstadt

HACHENBURG
Hachenburg im Westerwald ist eine Kleinstadt mit 6.000 Einwohnern und einem historischen Stadtkern mit Fachwerkhäusern und einer Fußgängerzone. Heute hat das Städtchen eine kulturelle Vielfalt zu bieten. Vor 15 Jahren, um die Jahrtausendwende, sah das noch anders aus: Statt kleiner Boutiquen gab es Spielhallen und Imbissbuden und viel Leerstand in der Fußgängerzone. Der engagierte Bürgermeister wollte das ändern und hat die Besitzer der leerstehenden Gebäude davon überzeugt, die Mieten zu reduzieren beziehungsweise die Flächen zu verkaufen, falls kein Nachfolger vorhanden war. Inzwischen floriert die Handelslandschaft und eine Kulturreferentin mit einem kleinen Team sorgen für reges Treiben in der „Metropole im Westerwald“: Jährlich finden dort über 100 Veranstaltungen statt.
www.hachenburg.de
Analysieren Sie die lokalen Traditionen und schaffen Sie neue Multiplikatoren. Wo können zwischen Händlern und anderen Unternehmen der Stadt neue Synergien entstehen? Wie kann man lokale Atmosphäre gemeinsam noch stärker zelebrieren?

Mit über 100 Veranstaltungen im Jahr belebt Hachenburg im Westerwald die Handelslandschaft (Foto: Matthias Ketz)

Fazit

  • Städte jeder Größe sind in Deutschland vom Strukturwandel im Handel betroffen. Das Internet ist ein wichtiger Treiber dieser Veränderung, da es den Handel vom Raum entkoppelt. Standort verliert an Bedeutung. Lediglich die Top-Lagen in Deutschlands Metropolen gewinnen an Attraktivität.
  • Der wirtschaftliche Erfolg der mittelgroßen und kleinen Innenstädte in Deutschland wird in Zukunft zu einer großen Herausforderung aller Akteure: Einzelhändler, Städtebauer und Stadtplaner, Architekten, Stadtmarketing, Immobilienentwickler und -besitzer. Nur gemeinsam können Städte attraktiv gestaltet werden.
  • Konsumenten sind es bereits heute
    nicht mehr gewohnt, eindimensional einzukaufen und mit einer beschränkten Auswahl vor Ort zufrieden zu sein. Sie legen einen Critical Lifestyle an den Tag, indem sie einerseits ein umfangreiches Angebot, andererseits lokale Verankerung und Kundennähe einfordern – also das Beste beider Welten.

  • Einwohner von unattraktiven Städten flüchten vor der Tristesse: Zum Einkaufen wandern sie ins Internet ab und suchen zunehmend die Vorteile der Großstädte – mit einer großen Auswahl, der notwendigen Infrastruktur und passgenauen Services, die vor allem mit steigendem Alter eine große Rolle spielen.
  • Erfolgsversprechende Handelskonzepte wie Online-Citys und die Präsenz auf Online-Marktplätzen stecken aktuell noch in der Entwicklungsphase. In welchem Maße sie die Kundenfrequenz im Laden erhöhen,?lässt sich noch nicht absehen. Ihr besonderer Nutzen liegt darin, stationäre Händler an neue Technologien und somit neue Wege der Kundenansprache heranzuführen.
  • Nicht alle traditionellen Fachhändler schaffen den Schritt in eine vernetzte Handelswelt. Städte, die künftig attraktiv bleiben wollen, werden daher zunehmend auf Innovatoren von außen zugreifen, mit denen sie nicht nur Vielfältigkeit und internationale Ideen einbringen, sondern durch die Nähe vor Ort kundenorientiert und lokal geprägt reagieren können.

www.zukunftsinstitut.de