Ökosozialer Konsum löst sich vom Weltrettungsgedanken durch Verzicht und entwickelt sich zu einem Konsum, der ethisch korrekt ist, aber auch Spaß macht, der nachhaltig und verschwenderisch zugleich ist. Der Retail Report 2017 des Zukuntsinstituts hat sich mit diesem neuen, spannenden Thema auseinandergesetzt.
Erd-Nah: Die blaue Ökologie arbeitet nicht mit Schuldzuweisungen
Neo-Ökologie ist ein wichtiger Megatrend für den Handel, über den viel geredet wird. Jeder will und alles soll nachhaltig sein. Heute ist Nachhaltigkeit wahrscheinlich das meist missbrauchte Sinnwort der deutschen Sprache.
„Corporate sustainability is like teen sex. Everybody talks about it. Nobody does it very much. And when they do it, they don’t do it very well“, bringt es Joel Makower, Guru der amerikanischen Green-Business-Szene, auf den Punkt.
Nachhaltigkeit hat sich zu einem hochgradig aufgeladenen Thema, zu einer regelrechten Ersatzreligion entwickelt. Es gilt, mit ökosozialem Verhalten die Welt vor dem menschenverursachten Untergang zu retten. Dieses Verständnis von Nachhaltigkeit basiert grundsätzlich auf Schuldgefühlen: Der Mensch wird als schädlich für seine Umwelt erachtet und muss den Schaden so weit wie möglich kompensieren. Dieser Ansatz hat bisher selten zu sinnvollen Veränderungen geführt – nicht nur der Handel tritt in Sachen Nachhaltigkeit auf der Stelle: Wirtschaft und Konsum sind gelähmt angesichts des Monstrums Sustainability.
Die blaue Ökologie
Das Konzept der blauen Ökologie setzt auf die Abkehr von der „Religion“ Nachhaltigkeit und vom grünen Schuld-Ökologismus: „Blau“ in Anlehnung an den blauen Planeten Erde, was im Gegensatz zu „grün“ einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt. Blaue Ökologie bedeutet, sich von bisher geltenden Prämissen zu verabschieden:
- Die Welt muss nicht gerettet werden. Die Natur ist ein robustes, resilientes und anpassungsfähiges System. Letztendlich zielt jedes ökosoziale Handeln von Menschen und Unternehmen auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation. Es geht hier also primär um die vom Menschen geschaffene Umwelt und deren Optimierung.
- Ökologie wird zum Standard. Biologische und nachhaltige Produkte und Services sind nicht mehr nur einer Elite zugänglich, die über ausreichend finanzielle Mittel und Wissen verfügt, sondern werden Normalität. Dass Produkte wie Lebensmittel oder Bekleidung ökosozial korrekt hergestellt werden, wird von immer mehr Kunden vorausgesetzt.
- Weniger ist nicht mehr. Verzicht macht die Welt nicht zwangsweise besser, sondern ist in den meisten Fällen reine Selbstgeißelung. Bei der blauen Ökologie kommt es auf die Effektivität an, nicht die Effizienz. Die Natur macht es bereits vor: Photosynthese zum Beispiel ist nicht besonders effizient. Aber in ungeheuer verschwenderischem Ausmaß sorgt sie für die Atmosphäre auf unserem Planeten. Der Chemiker Michael Braungart spricht hier von intelligenter Verschwendung, die eben nicht eine fragile Effizienz, sondern eine robuste Effektivität erzeugt.
- Natur und Technologie sind keine Gegensätze. Der Naturromantik stand bisher häufig eine Technikfeindlichkeit gegenüber. Technologie schafft neue Möglichkeiten für ein umweltfreundlicheres Leben und Konsumieren.
Effektiv statt effizient
Konsumieren rettet die Welt nicht. Retail muss sich weg vom Effizienzdenken, von Schuldgefühlen und von schlechtem Gewissen hin zu einem Handel entwickeln, der Spaß macht, verrückt und nachhaltig ist. Der Trend Blue Commerce beschreibt eine neue Form des ökologischen Konsums, die cool, ästhetisch und nützlich ist und zugleich die Lebensqualität erhöht.
Die Handelsbranche steckt in einem Dilemma: Man versucht, in einem System von Just-in-Time-Produktion und Billig-Discount Nachhaltigkeit zu etablieren. Die Strukturen bleiben die gleichen, nur sollen die Prozesse nun ökologisch und fair funktionieren. Hier wird versucht, Effizienz nachhaltig zu gestalten. Also setzt man auf Reduktion, da sich im Konsum bereits die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass mehr nicht gleich besser ist. Kunden überlegen sich, was sie wirklich brauchen. „Less is more“, das Motto von Mies van der Rohe und der Bauhaus-Architektur, ist längst zum Werbeslogan mutiert. Der Handel reagiert auf diese Entwicklung mit Update-Modellen, aber auch mit einer Kuratierung und Reduktion des Angebots. In der Modebranche zeichnet sich allmählich eine Entwicklung von Fast Fashion zu Fair Fashion ab.
Viele Bio-Labels und grüne Retailer appellieren noch immer an das schlechte Gewissen und deuten mit dem Zeigefinger auf die anderen. Der Handel mit fairen oder Bioprodukten funktioniert aktuell noch durch die Abgrenzung von konventionellen Produkten. Das erzeugt eine Schwarz-Weiß-Denke und ein Gut-Böse-Dilemma, das nur schwer aufzulösen ist.
Jegliche Bemühungen konventioneller Unternehmen werden mit Misstrauen beobachtet oder als Greenwashing-Kampagnen abgetan. Als H&M begann, alte Kleidungsstücke zurückzunehmen, um sie recyceln zu lassen, und dafür den Kundinnen im Austausch einen Gutschein für neue Klamotten gab, wurde der Schritt in Richtung Nachhaltigkeit als reine Marketingkampagne abgewertet.
Hedonistische Nachhaltigkeit: Yes is more
Hier kann sich der Handel Inspiration und Ideen aus dem Design und der Architektur holen. „Hedonistische Nachhaltigkeit“ ist ein Konzept des dänischen Architekten Bjarke Ingels, mit dem er nachhaltige Städte und Gebäude so gestaltet, dass sie zugleich die Lebensqualität erhöhen. Mit seinem Büro BIG in Kopenhagen hat er zum Beispiel „e Big U“ entworfen: ein Parkprojekt, das New York vor steigenden Wasserständen schützen soll – und gleichzeitig die Lebensqualität erhöht. Oder der „Urban Mountain“ in Kopenhagen: eine Kombination aus Kraftwerk und Skipiste. Mit der Aussage „Yes is more“ spricht er sich für ökologische und ökonomische Entwicklung aus, die Hand in Hand gehen: nutzen statt reduzieren, maximieren statt minimieren. Auch ihn treibt die Vision von der intelligenten Verschwendung an, eine überschwängliche, lebensbejahende und zugleich nachhaltig gebaute Umwelt zu kreieren.
Ist es möglich, ein Verständnis von hedonistischer Nachhaltigkeit im Retail zu etablieren? Erfolgreich im Blue Commerce sind vor allem Retailer, deren Philosophie durch und durch von ethischen und nachhaltigen Gedanken durchdrungen ist- die seit Jahren Ökologie leben und diese nach Bedarf weiterentwickeln oder neu erfinden.
Nachhaltigkeit alleine reicht ihnen nicht mehr – die Ideen der blauen Ökologie bieten mehr Raum für Kreativität auf einer neuen Entwicklungsstufe. Dies ist oft mit einem Reifeprozess verbunden, den Händler und Marken, die erst vor einigen Jahren das Thema Neo-Ökologie für sich entdeckt haben, noch durchlaufen müssen.
Beste Beispiele hierfür sind Designer wie Vivienne Westwood, die sich von den konventionellen Praktiken des Fashion-Business abwenden und zum bewussten Modekonsum aufrufen. Der Wandel in Richtung Neo-Ökologie ist bereits in vollem Gange, der Handel jedoch hinkt dem Zeitgeist noch etwas hinterher.
Retailer und Brands durchlaufen in Sachen Nachhaltigkeit eher eine langsame Evolution als eine bahnbrechende Revolution, wie sie die Digitalisierung des Handels mit sich bringt.
Trendprognose
Der Trend Blue Commerce hebt Sustainable Business auf eine neue Stufe. Er beschreibt die Entwicklung weg von einer Nachhaltigkeit der Verbote und des Verzichts, hin zu einer blauen Ökologie, die Spaß macht: Nachhaltigkeit im Retail darf nicht mehr mit der Metapher der Weltrettung einhergehen, sondern wird künftig mehr Lebensqualität für die Konsumenten bieten. Gleichzeitig wird Sustainability für Händler wie Kunden zur Selbstverständlichkeit: Nicht die Nachhaltigkeit steht im Vordergrund, sondern der Wert eines Produktes oder Services, der sich in seiner Qualität, seinem Design oder Nutzen ausdrückt. Für den Handel stellt der Trend Blue Commerce Neuland dar. Für Retailer, Marken oder Hersteller, die sich mit Herzblut für eine positive und genussorientierte Nachhaltigkeit einsetzen, erweist sich diese Nische als äußerst lukrativ. Außerdem gelten diese Unternehmen als Innovatoren in der Handelsbranche, die das Potenzial haben, tiefgreifende Veränderungen ins Rollen zu bringen.
Digitalisierung, Globalisierung, Individualisierung und Nachhaltigkeit sind die Megatrends, welche die Handelswelt in den letzten und kommenden Jahren auf den Kopf stellen. Und sie sind auch Grundlage für die Schwerpunkte des aktuellen Retail Reports des Zukunftsinstituts. Wir beleuchten an dieser Stelle das Thema „Blue Commerce“. Retail Report 2017 | Janine Seitz, Theresa Schleicher | Juni 2016 | ISBN 978-3-945647-30-1 Erhältlich im Onlineshop auf www.zukunftsinstitut.de
Faire Schokoladenkreationen – BEST PRACTICE: ZOTTER
Hinter der steirischen Schokoladen-Manufaktur Zotter vermutet man eine lange Familientradition – weit gefehlt: Das Unternehmen wurde 1999 vom Koch und Konditor Josef Zotter gegründet. Und doch haben die eigenwilligen Schokoladenkreationen eine Geschichte: Der Unternehmer ließ sich auch nach heftigen Rückschlägen nicht von seinem Traum, der Schokoladen-Manufaktur, abbringen. Josef Zotter lebt für Schokolade- bereits in seiner Zeit als Konditor erfand er die handgeschöpfte Schokolade und konnte den Art Designer Andreas H. Gratze dafür begeistern, kunstvolle Verpackungen für seine Kreationen zu gestalten. Bei all dieser Experimentierfreude erscheint die Information, dass die Zutaten biologisch und fair gehandelt sind, beinahe beiläufig – oder selbstverständlich. Heute zählen die Schokoladen des Querdenkers zu den besten der Welt und wurden mehrfach ausgezeichnet. Zotter ist EMAS zertifiziert, produziert bis zu 60 Prozent der benötigten Energie im Unternehmen mit hauseigener Photovoltaikanlage und fertigt seine Schokoladen Bean-to-Bar. Das ist möglich, weil das Unternehmen die Rohstoffe direkt in den Herkunftsländern bei den Bauern einkauft. Hierbei wird auf hundertprozentige Rückverfolgbarkeit und Transparenz gesetzt. In Kolumbien arbeitet man im Rahmen eines UNO-Projekts mit Familien aus Acandí, einer der ärmsten Regionen des Landes, zusammen. Dort wird nun Kakao statt Kokain angebaut. „Ich gehe meinen Trampelpfad durch den Dschungel und weiß noch, wo unsere Kakaobauern wohnen“, so Josef Zotter.
Seifenrevolution – BEST PRACTICE: LUSH
Die Läden des britischen Kosmetikherstellers Lush zeichnen sich durch ihren intensiven Geruch aus: Bereits auf der Straße lockt der süßliche Duft – oder schreckt eben ab. Umso mehr verwundert es, dass die Produkte „fresh & handmade“ sind und die Marke sich Ethik und Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben hat. Mark Constantine gründete das Unternehmen 1995 im Städtchen Poole an der Südküste Englands. Heute werden in sieben Fabriken in Großbritannien, Kroatien, Australien, Kanada, Japan und Brasilien die Kosmetikartikel hergestellt – 2016 kommt eine weitere Produktionsstätte in Düsseldorf hinzu. Weltweit betreibt Lush 936 Stores, in denen das Angebot an Seifen wie in einer Obst- und Gemüsetheke präsentiert wird. Die Produkte sind oft kunterbunt und geruchsintensiv, haben eigenwillige Formen und witzige bis provokante Namen. Marketingkampagnen wie „For Fukushima“ in den USA oder „Go Naked“ in Australien sorgen für Aufreger und Aufmerksamkeit. Der Gründer wendet sich häufig mit provokativen Aussagen zum Beispiel gegen Tierversuche, die Flüchtlingspolitik oder Steuerbetrug. Den Produkten sieht man diese Ernsthaftigkeit nicht an: Sie sind ausnahmslos fröhlich, positiv und verspielt. Lush lebt eine Ethik vor, die Spaß macht und ohne Verzicht auskommt.
Radical Transparency – BEST PRACTICE: EVERLANE
Das Fashion-Start-up Everlane aus den USA wird als das nächste große Ding gehypt. Der Online-Retailer setzt auf eine einfache, aber wirksame Strategie: radikale Transparenz. Auf seiner Website zeigt der Händler klar die Kosten auf, die in einem Kleidungsstück stecken: Vom Material, den Zutaten, über die Herstellung bis zum Transport wird alles aufgelistet. Außerdem wird verglichen, was das Kleidungsstück im traditionellen Handel kosten würde, der mit höheren Margen arbeitet als Everlane. Transparenz wird zum Kaufargument. Alle Fabriken, in denen das Unternehmen fertigen lässt, sind auf der Homepage
gelistet und werden mit Fakten und Geschichten beschrieben, Fotos erlauben einen Blick in den Arbeitsalltag. In einer Zeit, die von Negativ-Schlagzeilen zu den Produktionsbedingungen geprägt ist, ist diese Strategie revolutionär. Außerdem werden Führungen durch die Fabrik in Los Angeles angeboten und es finden regelmäßige Infoveranstaltungen in verschiedenen Städten in den USA zum Thema Transparenz statt.