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Trend 2020: Grüne Senkrechtstarter

Vertikale Farmen und Brutschränke für essbare Pflanzen sind im Trend. Das lockt auch Branchenanbieter und bietet ihnen ein neues Geschäftsfeld oder Sortiment.

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Neue Miele-Tochter im Küchenbereich: Plantcube-Gewächsschrank von Agrilution (Foto: Agrilution)

Im Zurheide Center in der Düsseldorfer Innenstadt wird eine Ecke in lila-pinkes Licht getaucht. Die über zwei Meter hohe, breite Glasvitrine fällt selbst in dem Supermarkt der Superlative durch ihr Farbspiel auf. Auf mehreren Etagen des Aufbaus lassen LED-Leuchten und eine automatisierte Nährstoffzufuhr Setzlinge von Kräutern und Salaten gut und schnell gedeihen. Während in der Vitrine die Pflanzen sprießen, stehen in den Regalen nebenan die ausgewachsenen Kräuter und Salate zum Mitnehmen bereit.
Die Vitrine ist eine „Vertical Farm“ des Berliner Jungunternehmens Infarm, wie sie deutschland- und weltweit schon in einigen Edeka- und auch Rewe-Märkten sowie in Warenhäusern, Einkaufscentern und Restaurants stehen. Die Kunden werden hier durch kleine Botschaften auf naheliegende (Werbe-) Argumente für die Brutschränke gestoßen: Die Slogans künden von „frischer Ernte“, „echtem Geschmack“ und „wirklich frisch ist wirklich lecker“.
Die Gründer des Start-ups Infarm zählen noch diese Fakten auf: „Wir nutzen 98 Prozent weniger Wasser, 75 Prozent weniger Düngemittel, keine chemischen Pestizide, 90 Prozent weniger Transporte und 99 Prozent weniger Raum.“

Knackpunkt

Der Knackpunkt ist dabei, dass eine solche Farm unabhängig von den Land- und Wetterbedingungen ist. Die Ernteerträge könne man effizient steuern, die Fruchtfolgen steigern und Wasser in einem geschlossenen System wiederverwenden, betont denn auch Alexander Gerfer als strategisch und technisch Verantwortlicher der Unternehmensgruppe Würth Elektronik eiSos. In der Vertical Farm Szene ist sogar die Rede von bis zu 30 Ernten gegenüber zwei bis drei in der Feldwirtschaft – bei bestimmten Nutzpflanzen.
„Wir sind nicht von der Sonne abhängig und haben die richtige Lichtintensität ohne dass der Geschmack darunter leidet“, behauptet Alexander Gerfer, dessen Unternehmen als Anbieter von Elektrokomponenten an den modernen Farmen mitverdienen will. Der Experte aus der Lichtbranche bringt neben Nutz- auch Pharmaziepflanzen ins Spiel sowie das Gartenbau-Schlagwort der „Horticulture Beleuchtung“. Demnach fördern im Gartenbau bestimmte Wellenlängen die Photosynthese und beschleunigen damit das Wachstum.

App-Oberfläche: Entwicklungsstand der einzelnen Pflanzsegmente ablesbar – weitere grüne Argumente: Saatmatten aus upcycelten Textilresten (Foto: Agrilution)

Alexander Gerfer, CEO und CTO der Würth Elektronik eiSos GmbH & Co. KG: LED-Lampen mit speziellen Lichtwellen (Foto: Würth Elektronik)

Der Forschungspartner, die Technische Universität München, verzeichnet bei den per LED angestrahlten Tomatenpflanzen mehr Blüten und deutlich mehr Abwehrstoffe gegen Schädlinge. Außerdem nennt der Hersteller bei der eingesetzten Wellenlänge von 450 Nanometern deutliche Energieeinsparungen von 62 bis 70 Prozent gegenüber herkömmlichen Natrium-Hochdrucklampen und Metallhalogenlampen.
Und versucht damit die Bedenken anderer Experten hinsichtlich eines wirtschaftlichen Betriebs zu entkräften. Laut des Agrar- und Gartenbauwissenschaftlers Prof. Dr. Uwe Schmidt von der Berliner Humboldt-Universität rechnen sich die Anlagen auch aufgrund eines hohen Energieverbrauchs erst bei einer Mindestgröße von einem Hektar und höheren Erzeugerpreisen: „Das kann sich in Zukunft ändern, wenn die Gesellschaft sagt, die Lebensmittel sind uns viel wert, wir wollen auch gerne mehr dafür ausgeben.“

 

Kosten und CO2

Das gibt Infarm-Mitgründer Guy Galonska in einem Gespräch mit der Publikation “Business Insider“ zu: „Der wesentliche limitierende Faktor ist Energie. Wenn man genug grüne Energie zur Verfügung hat, ist alles möglich — sogar Bananen.“ Nach seinen Angaben verbraucht eine Salat- oder Kräuterpflanze vom Anbau bis zur Ernte rund eine Kilowattstunde Strom. Das entspricht einer Waschmaschinenladung. Umso mehr lobt Guy Galonska den CO2-Fußabdruck von 20 Gramm. Im Gegensatz dazu verbraucht ein konventioneller Kopf Eisbergsalat in seinem Lebenszyklus rund 500 bis 600 Gramm Kohlendioxid, wie das Heidelberger Institut für Energie und Umweltforschung in einer Auftragsstudie für die Landesregierung von Baden-Württemberg ermittelte. Damit würde der High-Tech-Salat eine 25-fach bessere CO2-Bilanz als sein Artgenosse vom Acker aufweisen.
Ob diese Bilanz auch auf Nutzpflanzen mit höherem Licht- und Wasserbedarf wie zum Beispiel Advocados oder Getreide skalierbar ist, bleibt offen. Derweil plant Infarm den Indoor-Anbau von Pilzen, Tomaten, Erdbeeren und Wurzelgemüse. Übrigens nennen die Firmengründer – ähnlich wie IT-Anbieter mit „Software as a Service“ Angeboten – ihren Grundgedanken „Landwirtschaft als Service“: Die Kunden zahlen für jede Erntepflanze einen bestimmten Betrag und tragen die Kosten für Strom und Wasser, müssen sich aber sonst um nichts kümmern. Infarm stellt und wartet die Gewächsschränke, bringt die Setzlinge und betreibt die Datenanalyse zum Anbauzyklus.  

 

Neuer Schub

Die Idee bekommt durch die Übernahme des insolventen Anbieters Agrilution durch den Premium-Hausgerätehersteller Miele einen neuen Schub. Mit dem Modul Plantcube des Münchner Jungunternehmens zieht das Konzept auch in die heimischen vier Wände ein. Der vollautomatisierte Gewächsschrank ist so groß wie ein Standardkühlschrank und wird sowohl als „Vorreiter im Markt“ wie auch als „Design-Highlight für Küche oder Wohnzimmer“ beworben. Vom Prinzip her ist es ein geschlossenes Ökosystem mit einfach auszulegenden Saatmatten, kontrolliertem Licht und Klima sowie einer automatisierten Bewässerung, das über die Agrilution Cloud gesteuert beziehungsweise über die App des Benutzers kontrolliert wird.
Aktuell führt die Miele-Tochter 25 verschiedene Salate, Kräuter und Microgreen-Keimlinge in ihrem Pflanzensortiment, darunter auch szenetypische Sorten wie roter Pak Choi oder Wasabina Blattsenf. Laut Anbieter sollen die ersten Ernten eine Woche bis drei Wochen nach dem Start eines Plantcubes möglich sein – und danach sogar tägliche Ernten. Agrilution nennt auch grüne Argumente wie die Saatmaaten aus wiederaufbereiteten Textilresten oder einen ganzjährigen Wasserverbrauch von 120 Litern für das komplette Modul anstatt für einen einzigen Salatkopf auf einem Feld.
„Mit Blick auf kreatives Kochen, neue Geschmackserlebnisse, bewusste Ernährung und urbanen Lifestyle eröffnen die Plantcubes den Menschen spannende neue Möglichkeiten“, sagt Gernot Trettenbrein, Leiter des Geschäftsbereichs Hausgeräte der Miele Gruppe und zugleich Geschäftsführer der Miele Venture Capital GmbH. „Wir glauben an die Idee, an das Produkt und an das Geschäftsmodell – und an eine langfristige Zusammenarbeit mit den beiden Gründern und ihrem Team.“
Auch Mitbewerber Bosch mischt mit. Allerdings mit einem transportablen Tischmodell namens VarioTray und Spezial-App. Dabei handelt es sich um einen halboffenen und spacig wirkenden Topf mit integriertem Leuchtendeckel, Bewässerungssystem und Samenkapseln. Mit dem in verschiedenen Größen erhältlichen Modul können auch unterschiedliche Pflanzen – hier “Microgreens“ genannt – ohne Erde gleichzeitig angebaut werden. Die Kontrolle und Steuerung erfolgt über die besagte Applikation per Smartphone. „So wachsen Kräuter neben Salaten, Blattradieschen oder sogar Brokkoli“, heißt es bei Bosch.
Laut Hersteller sollen die 50 verschiedenen “Superfoods“ in nur sieben Tagen gedeihen. Mit der Smart Grow genannten Komplettlösung hat Bosch nach eigenen Angaben „das Segment des Indoor Gardenings neu definiert. (… ) Mit seinem durchdachten, schlichten Design fügt sich der SmartGrow dabei nicht nur in der Küche gut in seine Umgebung ein.“

 

Frische Salate und Kräuter in Infarm-Vitrinen: hier im Edeka Zurheide Center in der Düsseldorfer City (Foto: Dr. Claudia Wasser/www.trendwelten.eu)

Thema der Menschheit

Bei dem sich rapide entwickelnden Trend gehen die Hersteller und Zubehöranbieter als lachende Dritte aus der herrschenden Diskussion heraus. Denn das 21. Jahrhundert kommt bereits in seine Zwanzigerjahre und damit immer mehr an einen Wendepunkt. In diesen Tagen ist oft die Rede von Globalisierung, Klima- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Nahrungssicherheit, Energieversorgung, Logistik und auch von Existenzminimum und Bevölkerungswachstum.
Hinter den spröden Begriffen stecken Schlüsselthemen, Lebensbedingungen und emotionale Aspekte, die jeden von uns betreffen und einfach zusammengehören. Knackpunkt ist die Lebens- und Wirtschaftsweise des Menschen. Unsere Zivilisation ist immer noch geprägt von einer weiteren Wendezeit, dem Zeitalter vor rund 12.000 Jahren. Mit der Epoche der Jungsteinzeit kam eine erzeugende Lebens- und Wirtschaftsweise auf, die unter Wissenschaftlern als „neolithische Revolution“ gilt: Ackerbau und Viehzucht lösten zusammen mit dem systematischen Aufziehen von Pflanzen und Nutztieren das bisherige Prinzip der Jäger und Sammler ab. Damit ging das Zurückdrängen der Wälder und Anlegen von Vorräten einher, Sesshaftigkeit, Siedlungsbau, Verkehrswege, Urbanisierung und Flächenverbrauch.

 

Kritischer Punkt

Heute ist der kritische Punkt erreicht, an dem neue Lösungen gefragt sind. Schließlich leben nach Angaben der Vereinten Nationen derzeit 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Innerhalb der nächsten dreißig Jahre sollen voraussichtlich noch mal zwei Milliarden dazu kommen und sich dann 75 Prozent der Bevölkerung in Städten tummeln. Diese will ernährt werden.
Durch die Industrialisierung, den intensiven Einsatz von Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln konnte die Landwirtschaft die Erträge schon deutlich steigern. „Heute ernährt ein Landwirt 155 Menschen, im Jahr 1900 waren es fünf“, so Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner am Jahresbeginn auf der „Grünen Woche“ in Berlin. Auf dem parallel laufenden Welternährungsgipfel betont die Politikerin die Rolle des Handels als genauso „unverzichtbar“, spricht von „Agrarprodukten“ und plädiert für die „nachhaltige und standortangepasste Nutzung von Ressourcen“.
Bei den Gegnern der konventionellen Landwirtschaft klingt das etwas anders. „Wir haben es satt“: Unter diesem Motto fordern Natur- und Verbraucherschützer sowie umweltfreundlich eingestellte Landwirte die „Agrarwende“. Diese soll im Gegensatz zur konventionellen Landwirtschaft ökologisch, klimafreundlich, nachhaltig und preisgerecht gestaltet sein. Doch die Landwirtschaftsministerin wehrt sich gleichermaßen gegen das Schlagwort und den Inhalt einer Agrarwende, da nach ihrer Ansicht Landwirtschaft nicht zurückschauen, sondern nach vorn schauen müsse.

 

Lachende Dritte

Das tun bereits die lachenden Dritten. Nischenanbieter, Startups und Zukunftsprojekte denken und handeln nämlich in neuen Dimensionen: Die Betreiber oder Ausrüster von vertikalen Farmen haben eine raffinierte Lösung für die Grundproblematik gefunden, wie Nutzpflanzen besonders effizient anzubauen sind. Immer mehr Weidegründe und versiegelte Areale verhindern vielerorts ein Ausbreiten über die Fläche. Da es in größeren Kommunen und schon gar nicht in Großstädten möglich ist, lässt sich genug Platz über Höhe gewinnen – und das bei geringer Grundfläche.
Allerdings gilt das derzeit noch nicht für Getreide. So hat zum Beispiel Louis Albright, emeritierter Umweltlandwirtschaftsprofessor an der US-amerikanischen Universität Cornell, einen Preis von umgerechnet 20 Euro für einen entsprechenden Laib Brot ermittelt. Auch Vertreter der Agrarwirtschaft fühlen sich in ihrer Existenz durch die neue Konkurrenz bedroht. Sie warnen vor den gesundheitlichen Risiken und insbesondere vor neuartigen Keimen bei der immer künstlicheren Lebensmittelproduktion ohne Erde, in Reinräumen, abgekapselt von den Vorgängen der Natur und gesteuert von Computerprogrammen.
Nichtsdestotrotz wird schon allerorts in vertikalen Farmen auf professionellem Niveau geerntet. Zum Beispiel auf dem Dach eines bestehenden Gebäudes wie dem Shop-in-Shop-Einkaufszentrum „Cameleon“ in der belgischen Hauptstadt Brüssel oder im Dachgewächshaus „Altmarktgarten“ des Jobcenter-Neubaus der Ruhrgebietsstadt Oberhausen. Die Stadt Düsseldorf prüft momentan ein solches Projekt passenderweise für ihren überdachten Wochenmarkt „Carlsplatz“ in der City.
Die Konzepte haben Potenzial wie die millionenschweren Investitionen von Google Venture, Ikea, Softbank oder dem Scheich von Dubai zeigen. Das technologische Wettrennen ist weltweit entbrannt, und das Vertical Farming Marktvolumen wird nach Prognosen des Marktforschungsinstituts Allied Market Research von 2,23 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 auf 12,77 Mrd. Dollar (rund 11,83 Mrd. Euro) in 2026 anwachsen.
Arnd Westerdorf

Zukunftsvision: Nachhaltige, ökologische und wetterunabhängige Nahrungsversorgung an jedem Ort der Erde (Foto: Mike_Kiev)