Der vorliegende Food Report von Hanni Rützler beleuchtet in seinem Retail-Kapitel die zunehmende Bedeutung von Märkten und der bäuerlichen Direktvermarktung.
Hanni Rützler, die in unmittelbarer Nähe zu Wiens größtem Straßenmarkt wohnt: „Ich erlebe vor meiner Haustüre einerseits hautnah den Wandel der urbanen Straßenmärkte, angeschoben durch die Migration aus dem Nahen Osten und aus Afrika, andererseits auf dem nebenan stattfindenden Bauernmarkt den anregenden Austausch zwischen Landwirtinnen und Landwirten, Obst- und Gemüsegärtnerinnen und Gärtnern sowie städtischen Kundinnen und Kunden. Auch bei meinen beruflichen und privaten Reisen zählen Besuche von Märkten immer zu den Fixpunkten.“
In ihrem zwölften Food Report unterzieht Hanni Rützler unser Ernährungssystem erneut ihrer bewährt-präzisen Rundum-Analyse und leitet gut nachvollziehbar esskulturelle Entwicklungen ab, die sich in diversen Food-Trends manifestieren.
Der größte Anteil der Lebensmitteleinkäufe wird heute in Supermärkten und bei Discountern getätigt. Doch Kritik an diesen Einkaufsstätten gibt es zur Genüge. Die Landwirtschaft hat daher längst das Prinzip der Direktvermarktung für sich (wieder-)entdeckt: Kreative Ansätze reichen von gemeinschaftlichen digitalen Vermarktungsplattformen über Biokisten und Verkaufsautomaten bis hin zu Container-Shops. Straßen-, Bauern- und Wochenmärkte erleben eine Renaissance, Markthallen entstehen. Das große Plus der neuen Warenumschlagsplätze: Sie bieten mehr als reinen Konsum. Einkaufen wird hier zu einem Erlebnis, das die Sinne anspricht, Bedürfnisse erfüllt und sogar zur Lösung komplexer gesellschaftlicher Aufgaben beitragen kann.
Supermärkte und Discounter sind spätestens seit den 1970er-Jahren die Zentralgestirne unseres Einkaufskosmos. Heute werden zwischen 70 und 80 Prozent der Lebensmitteleinkäufe in Supermärkten und bei Discountern getätigt. Gleichzeitig dominiert insbesondere in Deutschland und Österreich ein sehr hoher Konzentrationsgrad den Lebensmittelhandel: Wenige Unternehmen kontrollieren große Marktanteile, was unter anderem die immense Macht von Handelskonzernen wie zum Beispiel Rewe und Aldi begründet. Auch deshalb reißt die Kritik an diesen Einkaufsquellen nicht ab. Sie kommt von Landwirten, die sich übervorteilt oder erpresst fühlen, die auf Größenwachstum und Intensivierung setzen müssen und dennoch finanziell ums Überleben kämpfen. Sie kommt von Konsumenten, die sich durch unzureichende oder unverständliche Kennzeichnungen getäuscht fühlen. Verbraucherschutzorganisationen reklamieren eine intransparente Preispolitik und Lieferketten, die nicht nachhaltig sind. Ernährungsfachleute lasten ungesundes Essverhalten unter anderem dem Category-Management an, das Kunden gezielt zum Kauf von zum Teil hochverarbeiteten, salz- und zuckerhaltigen Produkten bewegen soll, die den Umsatz steigern.
Umweltschützer bemängeln den „Flächenfraß“ durch suburbane Supermarktstandorte und die Bodenversiegelung für die Schaffung von Parkplätzen.
Nicht zuletzt die Bauernproteste, die Ende 2023/Anfang 2024 für Schlagzeilen sorgten, verbunden mit der anhaltenden Debatte um die Notwendigkeit nachhaltigeren Konsumierens, zeigen Wirkung. Sie rücken die Frage nach alternativen Einkaufsmöglichen in den Fokus.
Längst setzen Landwirte und Gemüsegärtner – insbesondere im Bio-Sektor – vermehrt auf Direktvermarktung. Sie bedienen sich dabei auch neuer Technologien und kooperativer Modelle. Zwar hat die Dominanz der Supermärkte und Discounter (letztere legen vor allem seit der Inflation deutlich zu) nicht abgenommen. Die Attraktivität der Straßen-, Bauern- und Wochenmärkte sowie der neu entstandenen Markthallen ist aber weiter gewachsen, wie aktuelle Daten des Wiener Marktamtes zeigen. In Großstädten steigt zudem die Zahl an Feinkostläden, Boutique-Bäckereien und Bistros mit spezifischen Lebensmittelangeboten wieder. Vor allem Besserverdienende schätzen sie als Supermarkt-Alternative.
Einkaufen als Erlebnis
Eine aktuelle Branchenuntersuchung in Österreich kommt zu dem Schluss, dass vier von zehn Konsumenten ihre Lebensmittel aus Lebensmittelfachgeschäften beziehen. Bauern- und Wochenmärkte besucht jeder dritte Konsument, und jeder fünfte Konsument frequentiert auch „Ab Hof Läden“ (Bundeswettbewerbsbehörde Österreich, 2023).
Auf Wochen-, Bauern- und Straßenmärkten ist Einkaufen mehr als reiner Konsum. Das üppige Frischeangebot macht die neuen Märkte ebenso attraktiv wie die Nähe zu den Produzenten. Besonders überzeugend sind jedoch die zahlreichen kulinarischen Services, wie die Integration von Streetfood, die einen direkten Bezug zum Essen auf meist hohem Niveau herzustellen vermag. Der Marktplatz wird hier wieder zu einem urbanen Fest- und Versammlungsplatz, zur modernen Form der altgriechischen Agora, auf der nicht nur ver- und gekauft, verkostet und gegessen, sondern auch kommuniziert und politisiert, gelacht, gelernt und gespielt wird.
Für Menschen, die gern kochen und denen das notwendige Erledigen der Einkäufe auch Vergnügen bereitet, sind Märkte und Markthallen oft die bessere Option. Aktuelle Studien wie der Wedl Food Report „So isst Österreich“ (Wedl Handels GmbH, 2024) zeigen, dass insbesondere im Vergleich zu den Jahren vor der Corona-Pandemie signifikant häufiger zu Hause gekocht und gleichzeitig stärker auf Regionalität und Frische der Lebensmittel geachtet wird. Vor allem bei jüngeren Personen unter 40 Jahren hat sich das Kochverhalten geändert: 35 Prozent der Befragten gaben an, 2023 mehr zu Hause gekocht zu haben als im Jahr davor. Fast ein Drittel möchte stärker auf Gesundheit und Ausgewogenheit achten, mehr Gemüse und Salat essen und weniger Fleisch.
„Ich dachte mir, eine neue Aufklärung muss eigentlich im Supermarkt anfangen. Denn das ist der Ort, wo wir den Produkten der Natur begegnen. Und auch den Produkten der Tierfabriken und der verödeten Landschaften. Aber alles, was wir da sehen, sind glückliche Hühner, lila Kühe und identisches Gemüse. Supermärkte sind Orte, die der Illusion gewidmet sind.“
Philipp Blom (Der Pragmaticus 2023)
Bunte Märkte
Insbesondere in Großstädten haben die Ereignisse von 2015/2016, als eine hohe Anzahl von Geflüchteten nach Europa kam, die europäischen Straßenmärkte stark beeinflusst, ihre soziale Struktur diverser gemacht und dabei Angebot wie Auswahlmöglichkeiten vergrößert.
Wurden die städtischen Straßenmärkte bis dahin vor allem von Händlern mit türkischem Migrationshintergrund mitgeprägt, so agieren heute auch viele syrische, libanesische, afghanische, irakische und afrikanische Händler auf den Märkten. Ihre Angebote erweitern unseren kulinarischen Horizont, erleichtern zugleich aber auch Neuzugewanderten den Weg zur Integration und zum erfolgreichen Neubeginn.
Der Austausch mit Produzenten und Händlern wie auch die Begegnung mit anderen Kunden aus unterschiedlichen Milieus ermöglicht es, die Welt der Lebensmittel besser zu verstehen und realistischer zu sehen. Darüber hinaus findet man insbesondere auf Erzeugermärkten häufig alte und neue Obst- und Gemüsesorten, die in Supermärkten aus verschiedenen Gründen nicht angeboten werden.
Wandel durch Inflation
Was im Sinne eines vollständigen Bildes nicht übersehen werden darf: Stark gestiegene Lebenshaltungskosten lassen auch die Zahl jener steigen, die aufgrund der Teuerung weniger in Supermärkten und bei Discountern einkaufen und auf die Angebote von Caritas- beziehungsweise Sozialmärkten sowie – in Deutschland – der Tafeln angewiesen sind. In Deutschland kommen aktuell fast zwei Millionen Menschen regelmäßig zu den 970 Tafeln im ganzen Land (Tafel Deutschland e. V.).
Parallel dazu haben die hohen Lebensmittelpreise in ganz Europa zuletzt aber auch dazu beigetragen, dass wieder vermehrt auf Wochenmärkten eingekauft wird. Hier helfen vor allem bei saisonalem Obst und Gemüse günstigere Angebote, um das Haushaltsbudget zu schonen. Sparsamkeit und Genuss schließen sich jedenfalls keineswegs aus. Darüber hinaus trägt das Einkaufen auf Märkten und Bauernläden auch zur Reduktion der Verpackungen bei. Marktbesucher nutzen beim Einkaufen überwiegend eigene Tragetaschen und Behältnisse.
Klassische Bauernmärkte mit ihrem vielfältigen regionalem, saisonalem und teils biologischem Angebot wecken insbesondere das Interesse von Foodies und Gourmets. In Zeiten ständiger zeitlicher und örtlicher Verfügbarkeit von Lebensmitteln im klassischen Supermarkt schaffen die temporären und saisonalen Angebote der Märkte einen Zauber von Exklusivität. Natürliche Verknappung provoziert zudem ein Gefühl der Dringlichkeit und erhöht den Kaufreiz – ganz ohne Sonderangebote und Sixpackköder. Auf dem Markt einzukaufen hat meist nichts mit der Einkaufsroutine im Supermarkt zu tun. Ein Markteinkauf bringt neben dem notwendigen Erledigen auch Vergnügen. Man erfährt immer wieder Neues und wird zunehmend kundiger. Aus Sicht vieler Marktbesucher, vor allem aber aus Sicht der Produzenten ist der Markteinkauf auch eine gesellschaftspolitische Handlung gegen die Allmacht der Konzerne, für die Förderung der regionalen Landwirtschaft sowie ein Beitrag zu einem nachhaltigen Ernährungssystem.
„Fast 160 Stunden verbringen wir jedes Jahr im Supermarkt. Das sind umgerechnet knapp sieben Tage, also eine ganze Woche.“
stern TV, 2022
Bio-Direktvermarktung
Immer mehr Landwirte diversifizieren ihren Betrieb und suchen Wege, bessere Preise für ihre Produkte zu erzielen und die Wertschöpfung auf dem Hof zu erhöhen. Gaben in der Schweiz im Jahr 2010 noch 7.084 Betriebe an, hofeigene Produkte direkt zu verkaufen (Statista, 2024 a), lag diese Anzahl nach Angaben des Schweizer Bauernverbandes nur zehn Jahre später bei 12.676 (Schweizer Bauernverband, 2024). 2022 setzte jeder vierte Betrieb auf Direktverkauf (Bundesamt für Statistik, 2022). Auch in Deutschland gibt es einen stattlichen Kundenstamm, der Produkte direkt bei den Erzeugenden kauft. Im Jahr 2021 gaben private Haushalte insgesamt 2,83 Milliarden Euro für Lebensmittel aus, die sie auf Wegen der Direktvermarktung erworben haben, davon rund 1,04 Milliarden Euro für Einkäufe auf Wochenmärkten (Statista, 2024). Vor allem für ökologisch wirtschaftende Betriebe spielt die Direktvermarktung eine große Rolle. Durch persönlichen Kontakt und direkte Angebote von hochwertigen regionalen Bio-Lebensmitteln sorgen Biobauern für eine stärkere Identifikation mit ihrem landwirtschaftlichen Konzept und für ein positives Image ihrer Produkte. Vielerorts gehen direktvermarktende Landwirte dabei gemeinsame Wege: Sie versuchen Risiken zu teilen, Abhängigkeiten von Handelskonzernen zu reduzieren und die Selbstbestimmung zu erhöhen. Biokisten (alias Ökokiste, Gemüsekiste, grüne Kiste, Gemüsekorb-Abo) gehören zum bewährten Standard des Direktvertriebs.
Genutzt werden außerdem gemeinschaftliche digitale Vermarktungs-Plattformen, aber auch Verkaufs-Automaten oder sogenannte Regionalboxen beziehungsweise Container- Verkaufsboxen. Wer etwa Obst- oder Gemüsesorten in nicht supermarktfähigen Mengen produziert, kann zum Beispiel auf diese Weise ein vielfältiges Produktsortiment anbieten, einen Beitrag zur Erhöhung der Diversität leisten und zugleich flexibel in der Preisgestaltung bleiben.
Bauernsupermarkt
Dass aus erfolgreichen Online-Plattformen für regionale, bäuerliche Produkte mitunter auch ein stationärer „Bauernsupermarkt“ werden kann, zeigt zum Beispiel markta (markta.at). Die 2023 in Wien eröffnete Filiale gilt als Pilotprojekt. Als physisches Geschäftslokal ergänzt sie den seit 2017 bestehenden Online-Versand mit Abholfunktion. Wie auf einem Bauernmarkt stärkt markta die Beziehung zwischen Konsumenten und Produzenten. Das gelingt durch ein kuratiertes Sortiment mit detaillierten Informationen über Herkunft und Zucht- und Haltungsbedingungen. Hinzu kommen zum Beispiel praktische Ratschläge für die Zubereitung, die etwa bei weniger bekanntem Gemüse. Regelmäßige Verkostungen und Workshops mit Markta-Produzenten lösen zudem die Anonymität auf, die im Lebensmitteleinzelhandel vorherrscht.