Seit über 25 Jahren analysiert Hanni Rützler den Wandel unserer Esskultur. Für das Zukunftsinstitut untersucht sie seit zehn Jahren die Food-Branche im jährlich erscheinenden Food Report. Wir geben einen Einblick in die aktuelle Forschung und berichten ausführlich über das Thema Fermentieren.
Gerade in unsicheren, verwirrenden Zeiten sind die Fragen nach unserer Motivation, unseren Werten und dem Sinn umso bedeutender. „Wer bin ich, wofür stehe ich, warum mache ich das und was mache ich überhaupt?“ – diese Fragen stellen sich nicht nur Menschen in Bezug auf ihre eigene Identität, sondern sie sind auch Leitfragen für unternehmerisches Handeln.
Erst wenn man den eigenen Antrieb kennt und man sich der Werte bewusst ist, für die das Unternehmen steht oder die man – auch angesichts der aktuellen Krisen – neu definieren möchte, ist es sinnvoll, sich mit der bewegten Außenwelt auseinanderzusetzen. Diese „Außenwelt“ spiegelt sich für die Nahrungsmittel- und Gastronomie-Branche, Handel und Landwirtschaft eingeschlossen, in den Food-Trends. Erst wenn man das eigene, innere Warum erkannt und definiert hat, kann die Trendforschung sinnvolle Orientierungshilfen geben.
Denn die Trendforschung beobachtet die Welt außerhalb von Unternehmen. Anhand von Food-Trends versucht sie, den Wandel der Esskultur und des Ernährungssystems zu beschreiben und zu analysieren. Es ist jedoch der eigene Antrieb – das Warum –, der Erdung gibt und auf dessen Grundlage die Auseinandersetzung mit Food-Trends für unternehmerische Entscheidungen sinnvoll und erfolgversprechend ist. Erst wenn diese Basis geschaffen wurde, können aus der Vielfalt der Trends jene gewählt werden, die für das jeweilige Unternehmen als verheißungsvolle Pfade in die Zukunft weisen.
Separate the Signal
Trendforschung besteht im Wesentlichen darin, „schwache Signale“ am Beginn jeder Trendentwicklung zu erkennen und sie vom medialen Rauschen, das in allem Neuen gleich einen Trend vermutet, zu unterscheiden. Sowie darin soziokulturelle Verschiebungen zu lesen und sie in einen übergreifenden Kontext einzuordnen. Das heißt, Trendforschung ist im Kern eine Kulturwissenschaft. Sie ist keine „Phänomenologie des Neuen“, die nur einzelne Produkte und Innovationen beschreibt, sondern sie ist den Ursachen von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen auf der Spur. In gewohnter Manier wirft der Food Report einen Blick auf die neuesten Food-Trends:
New Glocal
Die Neuordnung des globalen
Lebensmittelhandels
Multiple Krisen und ihre Auswirkungen rufen nach einer Reregionalisierung und Neuausrichtung des globalisierten Ernährungssystems. Regionale Agrarstrukturen, kürzere und transparente Lieferketten und ein neuer Fokus auf Binnenmärkte sind wichtige Schritte hin zu mehr Resilienz und Nachhaltigkeit in der Lebensmittelversorgung weltweit.
Veganizing Recipes
Klassische Gerichte im neuen Gewand
Traditionelle Gerichte vegan interpretiert werden in Zukunft zu einem selbstverständlichen Teil unserer Esskultur. Neben neuen Hightech-Imitaten von Fleisch und Fisch glänzen auch vegane Adaptionen unserer Leibspeisen, die ohne komplizierte Zutatenlisten auskommen.
Regenerative Food
Nachhaltige Lebensmittel
auch jenseits von Bio
Regenerative Food stellt die Regeneration des Bodens und die Biodiversität in den Mittelpunkt. Es ist der nächste Schritt der Agrarwirtschaft, um den Planeten wieder gesünder zu gestalten. Spitzengastronomen schätzen diese Art der Lebensmittelproduktion, aber auch große Lebensmittelunternehmen haben die Bewegung bereits im Blick.
Meat
Die vielfältige Zukunft des Fleischkonsums
Fleisch verliert seine Rolle als Leitprodukt unserer Esskultur – zumindest in den Visionen innovativer Lebensmitteltechnologen, Investoren und im veganen Diskurs um „richtige“ Ernährung. Plant-based Food hat sich zu einem der wichtigsten Food-Trends unserer Zeit entwickelt und ist längst nicht mehr nur für Vegetarier und Veganer interessant. Neben pflanzenbasierten Produkten kündigen sich nun auch weitere Alternativen an, die Fleisch und Fisch in Geschmack und Textur immer ähnlicher werden. Alt-Protein und Cell-cultured Food sind die neuen Buzzwords der Lebensmittelindustrie.
Welche Fleischalternativen gibt es, wer sind die Vorreiter der Branche, welche Herausforderungen müssen noch gemeistert werden und welche disruptive Technologie könnte das gesamte Lebensmittelsystem, wie wir es kennen, umkrempeln? All diesen Fragestellungen liegt ein heroisches Narrativ zugrunde: Die Schlacht zur Rettung des Planeten wird auf den Tellern gewonnen.
Fusion
Die kulinarische Globalisierung unseres Alltags
Während sich auf der Ebene der Ausgangsprodukte der Trend zu mehr Regionalität und Lokalität weiter festigt, beobachten wir auf der Ebene der Speisen eine immer stärkere Internationalisierung.
Es geht längst nicht mehr allein darum, möglichst authentische „fremde Küchen“ zu erleben, ausländische Gerichte wie Sushi oder Samosas in den kulinarischen Alltag zu integrieren oder möglichst exotische neue Spezialitäten zu entdecken. Inzwischen zeichnet sich zusätzlich eine neue Lust am Fusionieren und Vermischen von Küchenstilen und -traditionen ab. Einst den Spitzenköchen vorbehalten, ist das fröhliche Experimentieren mit verschiedensten Zutaten und Zubereitungsarten heute ein Trend, der viele begeistert und sich in Form von neuen populären Rezepturen rasant auf Social-Media-Plattformen verbreitet. Fusion is the New Normal!
Retail Visions
Das Nachhaltigkeitsbewusstsein verändert die Welt des Lebensmittelhandels
Der Widerspruch ist offenkundig. Auf der Seite des Handels ebenso wie auf der Seite der Kunden. Während Letztere in Umfragen zu einem hohen Prozentsatz angeben, dass sie bei der Wahl ihrer Lebensmittel Kriterien für nachhaltige und soziale Gerechtigkeit hochhalten – am liebsten soll es regional, bio, saisonal, frisch, gesund, fair, „tiergerecht“ sein und keinen Müll verursachen –, sieht es in der alltäglichen Einkaufspraxis oft ganz anders aus. Da diktieren Preis und Convenience sowie natürlich auch das überhaupt vorhandene Angebot im Supermarkt die Auswahl der Lebensmittel. Das Sortiment wird meist nach anderen Kriterien zusammengestellt und nimmt – abgesehen von grünen Werbeversprechen – immer noch zu wenig Bezug auf Wünsche und Werte einer wachsenden Anzahl von Kosumenten, die besser einkaufen wollen. Das muss und wird nicht so bleiben.
Transformationen
Fermentation kommt aus der Vergangenheit und führt uns doch in die Zukunft. Dieses uralte Verfahren spannt eine Brücke zwischen Tradition und innovativer Technologie – und ist so wichtiger Teil unserer zukünftigen Ernährungswelten.
Seit Jahrtausenden wird Fermentation, also die Transformation von Lebensmitteln durch Bakterien, Pilze oder Hefen, eingesetzt, um Brot, Käse, Kimchi, Tempeh oder Bier herzustellen. Schon frühe Zivilisationen nutzten mikrobielle Kulturen zur Konservierung von Lebensmitteln, zur Herstellung alkoholischer Getränke, zur Veränderung des Geschmacks und der Textur sowie zur Verbesserung des Nährwerts und der Bio-Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Im letzten Jahrhundert hat sich die Rolle der Fermentation weit über ihre historische Verwendung hinaus auf ein viel breiteres Spektrum von Anwendungen ausgedehnt. Ein Beispiel ist die Verwendung von fermentiertem Schlauchpilzmyzel durch das britische Unternehmen Quorn, das in den 1980er-Jahren eines der ersten Fleischersatzprodukte auf den Markt brachte. Auch die meisten Vitamine für Nahrungsergänzungsmittel werden durch Fermentation hergestellt. Seitdem werden der Prozess der Fermentierung und sein Potenzial für ein nachhaltigeres Lebensmittelsystem wissenschaftlich immer besser erforscht. In den kommenden Jahren wird die Fermentation auch zu einer Schlüsselkomponente bei der Umstellung auf alternative Proteine werden.
Mit der rasanten Entwicklung der Bio-Informatik beziehungsweise der biotechnologischen Forschung ist es nicht nur möglich, Bakterien gezielter auszuwählen, sondern auch ihre Funktion mithilfe der Genschere Crispr präzise zu programmieren.
Daher der Begriff Präzisionsfermentation, die aber nicht nur gentechnische, sondern auch viele nicht-gentechnische Ansätze verfolgt. So kann man mithilfe veränderter Bakterien und pflanzlicher Nährstoffe rekombinante Proteine wachsen lassen, die bisher nur von tierischen Lebewesen erzeugt werden konnten. Das Ergebnis kommt beispielsweise in der industriellen Käseproduktion zum Einsatz, wo fermentativ hergestelltes Chymosin statt Kälberlab verwendet wird.
Weltweit arbeiten immer mehr Firmen daran, jene spezifischen tierischen Aminosäuren zu finden, die zum Beispiel für den Geschmack oder die physikalischen Eigenschaften von Kuhmilch verantwortlich sind. Diese werden dann von entsprechend programmierten Bakterien in sogenannten Fermentern, riesigen Tanks mit aktuell bis zu 600.000 Litern, nachgebaut. Sie produzieren dann zum Beispiel Kasein ganz ohne den Einsatz von Kuhmilch. Dadurch lässt sich – verglichen mit der Aufzucht, Fütterung und dem Melken in der Viehzucht – nicht nur der Produktionsaufwand wesentlich reduzieren. Es geht auch deutlich schneller: Im Idealfall können die so produzierten Lebensmittelbestandteile im Abstand von wenigen Stunden geerntet werden. Auch der Methan- und CO2-Ausstoß, der Energie- und Wasserverbrauch wären deutlich geringer – ganz zu schweigen vom Tierleid.
Während durch „wilde“ Fermentation, die seit Jahrtausenden bei der Lebensmittelproduktion eingesetzt wird, komplexe Aromen entstehen, können mit der Präzisionsfermentation einzelne Aromakomponenten isoliert und dann neu kombiniert werden. Das Gleiche gilt auch für Farbe und Textur. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Vorteil: Dort, wo aus dem Fermenter Proteine kommen, die mit den bekannten (Milch-) Proteinen identisch sind, ist auch die lebensmittelrechtliche Zulassung schnell gewährleistet.
Neben den spannenden Möglichkeiten der Präzisionsfermentation hat die Industrie, das Thema Fermentation bereits für sich entdeckt und bietet dafür das passende Zubehör.
Food Report 2023 (Juni 2022)
140 Seiten
ISBN 978-3-945647-89-9
Wichtige Impulse
Anders als Produkttrends sind Food-Trends häufig nicht unmittelbar verbraucherorientiert. Vor allem in der frühen Entstehungsphase bieten sie auch Lösungen an, die Konsumenten nicht direkt erwarten.
Regenerative Food, ein Trend, der gerade erst in einer kleinen landwirtschaftlichen Nische keimt, ist dafür ein gutes Beispiel: Dabei geht es um eine Produktionsweise, die Verbraucher noch gar nicht kennen. Zugleich offeriert sie aber Antworten auf die durch die Klimakrise verschärften Probleme der landwirtschaftlichen Primärproduktion und kommt damit letztlich auch dem Konsumentenbedürfnis nach schmackhaften, nachhaltigen und gesunden Lebensmitteln entgegen. Auch New Glocal ist ein Trend, der durch die kriegsbedingt drohenden Versorgungskrisen an Dynamik gewinnt, aber dessen erste Signale bereits lange vor Kriegsbeginn erkennbar waren. Food-Trends erfüllen demnach nicht nur existierende Bedürfnisse und Wünsche oder spiegeln die Werte der Konsumenten wider. Sie gehen über sie hinaus, „sprengen“ und erweitern sie und treiben sie voran. Dabei entwickeln sich Food-Trends nicht linear. Sie stehen unter dem Einfluss ständiger Veränderungen, provozieren mitunter Gegentrends und reagieren im besten Fall mit innovativen Adaptionen auf Veränderungsimpulse.